Willkommen im
Waffenstillstand ist: Verstörungen auf allen Seiten, offensichtliche Erschöpfung. Hier ist niemand erschöpft. Hier wird Luft geholt. Luft geholt auf beiden Seiten. Das ist die Ruhe vor dem Sturm.
Heute ist es warm, die Sonne scheint. Nach vielen kalten Tagen ist es endlich warm. Es regnet auch nicht. Die Wolken über Penzlin sind wie die Wolken über dem Meer: sie machen den Himmel tief, geben ihm noch mehr Unendlichkeit. Der Wind streicht durch die Bäume, lässt ihre Zweige tanzen. Die Vögel zwitschern, die Kühe grasen an den Grenzen unseres Grundstücks. Es ist sehr still.
Aber das täuscht. Ich bin vor die Haustür getreten und sehe sie wieder die Finten veranstalten, die sie schon einige Male versucht haben: jeder sitzt auf einem der Haufen von Ästen, die einmal ein Nest werden sollen. Ein Storchennest auf unserem Haus. Eines am südlichen und eines am nördlichen Ende des Hauses.
Diese Strategie praktizieren die beiden Störche seit vier Tagen. Sie besetzen beide Positionen, tun so, als seien sie zerstritten. Sind nur strategisch klüger geworden. Sie wissen wohl: wenn das Naturschutzamt ihre Absicht spitz kriegt, hier ein Nest zu bauen, dann sind sie aus dem Schneider. Dann kann ich machen was ich will, sie stehen unter staatlichem Schutz und wenn ich mich noch so ärgere. Das habe ich von Herrn Schröder gelernt, dem Ornithologen, der gestern hier war, um die Gesamtsituation zu beurteilen. Wer kennt sich schon aus in der Klugheit von Störchen.
Dabei hatte ich mich abgefunden. War bereit, ein Storchennest auf dem Dach zu dulden. Ursprünglich war ich anderer Ansicht: sagte mir, das neue Dach muss nicht voll gekleckert werden vom Kot der Störche. Ich habe es ja gesehen. Zum Beispiel im Rühstädt, dem europäischen Storchendorf. Es ist schön, Störche auf dem Dach zu haben, Phantasie beflügelnd. Störche bringen Hoffnung, stiften die Freude am Außergewöhnlichen. Kleine Vögel oben auf dem Dach sind ohne Brille nicht zu erkennen. Den Storch erkenne ich mit bloßem Auge. Störche haben eine Aura, sind sagenumwoben. Aber das neugedeckte, neugestrichene Haus in Penzlin so schrecklich bekleckert zu sehen wie die Häuser in Rühstädt – nein, das wollte ich nicht.
Diese Meinung hatte ich mir gebildet als schon im Herbst vorigen Jahres zu erkennen war, sie haben Freude an diesem Platz. Vor ihrem Abflug nach Süden, im August machten sie hier Visite zu zweit, zu dritt, zu viert. Saßen auf dem First des Daches, schauten und waren kurz darauf wieder weg. Da freuten wir uns noch. Störche auf unserem Haus, das wäre doch was. Anfang April kamen sie wieder, wenige aber entschlossen. Zuerst hörte ich nur davon und blieb bei der ablehnenden Haltung. Dann aber kam die Erleuchtung: es ist engherzig und kleinlich, das Bekleckern des Daches der Freude gleich zu stellen, diese prächtigen Vögel auf dem Grundstück zu haben. Schandbar, schämenswert.
Zwei Tage später in Penzlin angekommen, sah ich, die Beschmutzung des Daches ist nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend ist, das Storchenpärchen nistete auf der Südseite des Hauses, der dem Park zugewandten. Nistete auf der Esse des neuen Kamins. Drohten, den in das Haus von 1583 neu eingebauten Kamin außer Gefecht zu setzen, die Wärmequelle, die uns im überkühlen Frühling so gut geholfen hatte wie im kalten Herbst des Vorjahres. Ihn aufgeben, dieses Schmuckstück der Küche, kommt überhaupt nicht in Frage. Wer das versucht, erklärt uns den Krieg.
Rufe, Schreie aller Art beeindrucken Störche überhaupt nicht. Wie aber einem Storchenpärchen erklären, dass es auf der Südseite auf keinen Fall geduldet, auf der Nordseite aber herzlich willkommen ist? Ein Krieg mit ungleichen Mitteln. Was ist gegen Vögel zu unternehmen, denen akustische Signale gleichgültig sind? Ich habe die Kriegserklärung der Störche angenommen und Feuer im Kamin gemacht. Das Tuten unseres einspurigen Bähnchens ist von Weitem zu hören, wenn es über den unbeschrankten Straßenübergang fährt. Das Bähnchen tutet, der Storch bleibt. Heute nur einer, wahrscheinlich die Vorhut.
Der Qualm steigt energisch aus der Esse. Noch ist es den Glücksbringern nicht gelungen, ihr Werk zu vollenden, den Schornstein ganz zuzubauen. Es liegen schon vielen Äste obenauf, gar nicht ganz kleine. Erstaunlich, aus wie stabilen Zweigen Störche am Ende ein rundes Nest machen. Rund ist jetzt noch nichts auf der Esse. Ungeordnet, wie vom Zufall hingeworfen liegen die Zweige, ragen nach allen Seiten oder hängen herab. Noch funktioniert der Kamin. Rauchwolken steigen auf, trotz der mehr als Faust großen Pakete von Moos, Gras oder was immer sie brauchen, um ihr Nest fertig zu stellen. Kinderkopf große Klumpen schleppen sie herauf, nehmen unter erkennbarer Anstrengung wie ein überladenes Flugzeug langsam Fahrt auf, um ihre Fracht nach oben zu bringen und die Lücken zwischen den Zweigen zu stopfen. Viele solcher Ballen habe ich sie hinauf wuchten sehen, aber noch ist der Kamin nicht verstopft. Endlich ist es wohl zu viel Rauch, zu viel Ungewohntes: die Vorhut weicht.
Der erste Zug unseres einspurigen Bähnchens fährt 5.43 Uhr. Um diese Zeit sind die strategischen Entscheidungen im Storchenkrieg schon gefallen. Das erste Grau des Tages ist gegen 4 Uhr und dann kommen sie. Erst einer, die Vorhut. Herr Schröder sagt: das ist das Männchen. Minuten später kommt das Weibchen. Also Dauerfeuer im Kamin auch in der Nacht. Fabian hat vor unserem Sommerfest mit 150 Gästen eine ganze Schubkarre Holz geholt und in den geflochtenen Korb neben dem Kamin geschichtet. Es ist verbraucht. Noch halten die Störche durch. Und doch sind Veränderungen erkennbar. Das Storchenpärchen baut mehr und mehr auf den Nordgiebel, tut wenigstens so. Immer wieder wird auch der Südgiebel besetzt, die Anfänge des Nestes dort ausgebaut. Finte? Ablenkungsmanöver? Vor einer Woche war davon so gut wie nichts zu sehen. Nur ein paar wirre Zweiglein. Jetzt ist dort ein dicker Stapel zu erkennen, klare Verdichtungen zu einem Nest. Viele Stunden ist keiner der beiden da.
Wo treiben sie sich dann herum? Herr Schröder äußerte die Vermutung, die Störche bauten hier nur Spielnester. Übungen für den Ernstfall. Es handele sich nur, so vermutete er, um eines der drei Pärchen, die in Meyenburg nisten oder die beiden aus Schmolde. Zusätzliche Tiere seien nicht zu erwarten. Die intensive landwirtschaftliche Nutzung verengt den Lebensraum der Störche immer weiter. Was – Krieg um Nichts!? Verschmutzung des Daches, Verstopfung der Esse nur zum Spiel? Taktischer Vorstoß meinerseits ins Leere?
Das haben Kriege an sich: die Mittel werden immer gröber. Am Montag kommt der Dachdecker. Er soll aufräumen mit der Südposition. Ob er es machen wird, weiß ich nicht. Ob es bezahlbar ist, weiß ich auch nicht. Ich weiß nur: im Augenblick sitzen sie beide auf dem nördlichen Nest. Die dunklen Hosen vom Kaminrauch sind noch zu erkennen. Sie turteln miteinander, werfen die Schnäbel auf den eigenen Rücken. Eben sogar ein Begattungsversuch. Zu dieser Jahreszeit? Wahrscheinlich nur Spaß und Spiel, aber anstrengendes Spiel. Die Äste, die ihnen beim Nestbau vom Dach gefallen sind, reichen, ein kleines Lagerfeuer zu machen. Das Gewicht des Nestes, das sie oben zwischen Giebel und First eingeschmiegt haben, kann ein Mann gewiss mit einer Hand halten. Aber er muss stark sein. Eine blau gerahmte Wolke, vielfarbig in ihrem Grau und Weiß, zieht über das Haus. Was hecken die beiden aus?
Der Ausgang von Kriegen wird von den Göttern bestimmt, das lehrt uns Homer. Unseren Krieg hat ein Sturm entschieden, der die Fenster erzittern ließ. Er fegte beide Fragmente von Nestern vom Dach. Alles umsonst gewesen? Das frühe Aufstehen? Das Gespräch mit Herrn Schröder? Das Befeuern des Kamins die ganze Nacht hindurch? Nein! Wenige Monate später wurde unser erstes Enkelkind geboren, lange erhofft. Helena in London. Dann Augustina in Düsseldorf. Es stimmt also, was der Volksmund schon lange weiß: Der Storch bringt die Kinder. Man darf es nur nicht so eng sehen.
Thilo von Trotha